Große Ehre für Uwe Werthebach
„Die Fotos vom fertigen Grab habe ich mit einem kurzen Brief nach Rom geschickt – an den ehemaligen Papst Benedikt, Er wird ja selbst das Grab seines Bruders wohl nicht mehr besuchen. Nun kann er es wenigstens einmal sehen.“
Steinmetz Uwe Werthebach hat in seinem Leben schon viele Grabsteine beschriftet, aber diese Arbeit ist eine seiner emotionalsten. „Das war kein normaler Auftrag. Keiner, der sich betriebswirtschaftlich rechnet. Das war Ehrensache für mich. Ich habe es für den Chef getan.“ Der „Chef“, mit einem bayerisch langgezogenen „eee“ gesprochen, war Domkapellmeister Georg Ratzinger. Und sein Zögling Uwe Werthebach als ehemaliger Sänger der Regensburger Domspatzen und Schüler des Domspatzen-Gymnasiums fühlt sich dem einstigen Leiter des weltberühmten Chores immer noch tief verbunden.
Wie kommt ein Siegerländer Handwerkersohn zu den Domspatzen ins tiefe Bayern? Uwe Werthebach erinnert sich genau. Die Eltern luden eines Tages in aller Herrgottsfrühe ihn und seine fünf Geschwister ins Familienauto und fuhren nach Regensburg. Die drei Schwestern saßen auf der Rückbank, jede von ihnen einen kleinen Bruder auf dem Schoß. Erst kurz vor Regensburg verriet Mutter Rita den Zweck der Reise: „Wir stellen den Uwe heute bei den Domspatzen vor!“
Die Aufregung war groß, und erst recht die Begeisterung, als der neunjährige Bub beim Vorsingen sein Bestes gab. „Großer Gott, wir loben dich“ und und „Lobe den Herrn“: „Das kannte ich ja alles. Wir waren eine katholische Familie, meine Eltern haben uns so erzogen.“ Und gesungen hatte der Kleine immer schon gern – schlicht zum eigenen Vergnügen. Der Domkapellmeister sah sich Uwes Zeugnisse an und war zufrieden. Als 1980 das nächste Schuljahr begann, stieg der Neunjährige mit einem vollgepackten Koffer am Siegener Bahnhof in den Zug und fuhr mutterseelenallein seiner neuen Heimat entgegen. Dort musste er erst einmal die Grundschule zu Ende bringen. In der „Vorklasse“ in Etterzhausen verbrachte er sein erstes Jahr. Das Regiment dort war streng, es gab auch Prügel. Zwei Erzieher hielten 90 Jungen mit harter Hand im Zaum.
Mit dem Wechsel zum althumanistischen Gymnasium und dem Umzug ins Domspatzen-Internat nach Regensburg begann für Uwe Werthebach eine neue, eine herrliche Zeit. Im Nachhinein vielleicht die schönste seines Lebens. 93 Jungen begannen in seinem Jahrgang die gymnasiale Laufbahn. Davon machten 18 nach neun Jahren Abitur. Uwe Werthebach war einer von ihnen. Und während dieser Jahre war Georg Ratzinger als Domkapellmeister nicht nur Chef, sondern Respektsperson, Vertrauter, väterlicher Freund. „Ich habe mit ihm eine intensivere Zeit verbracht als mit meinem eigenen Vater.“ Das lag nicht nur am Singen – täglich drei Stunden Probe! –, sondern auch an den Konzertreisen, die Uwe mit den Domspatzen unternahm. „Wir waren in Amerika, auf Sizilien, in Paris. Das hätte ich doch ohne die Domspatzen nie erlebt!“ Dazu kamen die Deutschland-Tourneen. Uwe war schnell Mitglied des ersten Chores und gehörte dann oft zu den drei führenden Sängern seiner Stimmlage.
Bei den Domspatzen kam es nicht auf die ganz großen solistischen Leistungen an, sondern hier zählte vor allem das große Ganze, der Klangkörper. Das heißt nicht, dass man sich stimmlich verstecken konnte. Georg Ratzinger arbeitete akribisch mit seinen Jungen, auch im Einzelunterricht. „Er hat immer versucht, mir das Siegerländer Rrrr abzugewöhnen. Und ich wusste gar nicht, was er von mir wollte.“ Während es im Unterricht um Latein und Altgriechisch, um Mathe und Chemie ging, war der Chorgesang spätestens in der 8. Klasse vorbei, denn dann machte der Stimmbruch den glockenhellen Knabenstimmen den Garaus. „Viele meine Mitschüler lernten dann ein zweites Instrument. Ich nicht. Ich war leider zu faul dazu.“ Erst mit 41 wetzte Uwe Werthebach die Scharte aus und begann Posaune zu lernen. Heute spielt er im Musikverein Gerlingen. Auch der Chorgesang hat ihn nicht losgelassen. Als Leiter des Männerchors der KAB St. Sebastian Walpersdorf gibt er weiter, was er von Georg Ratzinger gelernt hat.
Die Verbindung zu dem an jeder Ecke und in jeder Gasse geschichtsträchtigen Regensburg und zu den Domspatzen ist für Uwe Werthebach nie abgerissen. Als Georg Ratzinger am 1. Juli 2020 im Alter von 96 Jahren starb, eilte der Siegener nach Regensburg. Als einer von 200 ehemaligen und aktiven Domspatzen sang er bei der Totenvesper im Dom für den Domkapellmeister.
Buchstabe für Buchstabe eingemeißelt und ausgemalt
Als im September der Anruf der Stiftung Regensburger Domspatzen kam mit der Bitte, das Grabmal für den verstorbenen Domkapellmeister Georg Ratzinger herzurichten und die Schrift für ihn auf den Stein aufzubringen, zögerte Uwe Werthebach keinen Moment. Und das, obwohl der Zeitplan eigentlich unerfüllbar eng war. Bis Allerheiligen so die Vorgabe, sollte alles fertig sein. Nur ein paar Wochen blieben dem Steinmetz – für die Arbeit. Und die erwies sich als knifflig.
Zuerst musste mit der Stiftung genauestens abgestimmt werden, was auf dem Grabstein stehen sollte. Georg Ratzinger ist in dem Grab beigesetzt, in dem auch sein Vorgänger, der Domkapellmeister Theobald Schrems, seit 1963 ruht. Die Grabplatte und das breite Grabmal mit dem Bronzekreuz und den ersten Noten des „Te deum laudamus“ („Großer Gott, wir loben dich“) waren also bereits vorhanden. Schrems’ Name, seine Titel und die Lebensdaten waren auf der linken Seite des Kalksteinmonuments verewigt. Die rechte Seite war für Georg Ratzinger reserviert.
„Als ich auf den Friedhof kam und das Grab sah, habe ich erst mal einen Schreck bekommen. Der eigentlich helle Stein so dunkel wie der Dom früher, das Grab war in keinem würdigen Zustand.“ Uwe Werthebach war sofort klar, dass es mit dem schnellen Einmeißeln der neuen Schrift nicht getan war. Hier musste von Grund auf restauriert werden. Zuerst aber war die Frage: Welche Schrift? Der Steinmetz hatte 1964 die Schrift für Theobald Schrems frei von Hand in den Stein geschlagen. Daneben konnte Uwe Werthenbach nun nicht mit einer modernen Schrift aufwarten. „Ich habe also einen Abrieb der alten Buchstaben erstellt.“ Mit einer Art Pauspapier und roter Kreide kopierte er die Konturen, um daraus die neue Inschrift zusammenzustellen. Die Idee, dass man die Steinplatte aus Regensburg mit ins Siegerland nehmen und dort in der Werkstatt die Schrift einmeißeln könnte, erwies sich als undurchführbar. „Wir mussten vor Ort arbeiten, es ging nicht anders.“ Steinmetz Michael Dick und Bildhauerin Miriam Textor aus dem Siegener Betrieb machten sich mit dem Chef ans Werk. Das Oktober-Wetter in Bayern war alles andere als einladend, aber Uwe Werthebach half sich mit einem Zelt, das er über das Grab baute. „So konnten wir wenigstens im Trockenen arbeiten. Aber es war lausig kalt.“ Die Reinigung des Kalksteins war die erste Herausforderung. Die üblichen Mittel funktionierten nicht so recht. Erst als der Steinmetz mit einer maschinell betriebenen Satinierscheibe vorsichtig zu Werke ging, kam die schöne helle Farbe wieder zur Geltung. Buchstaben für Buchstaben meißelte Uwe Werthenbach den Text in die Platte. Bewusst hatte sich die Stiftung dafür entschieden, die Schriftgröße und den Zeilenabstand von dem Text für Theobald Schrems abzusetzen. Jede Inschrift sollte für sich stehen – immerhin liegen über 50 Jahre zwischen den beiden Sterbedaten. Immer wieder blieben Friedhofsbesucher vor dem Grab, das zwei Wochen lang eine Baustelle war, stehen und kamen mit den Siegerländer Steinmetzen ins Gespräch. „Gut, dass das jetzt so schön hergerichtet wird“, hörten die Handwerker oft – ein Ansporn an dem unwirtlichen Arbeitsplatz.
Zum Schluss kam die kniffligste Arbeit: Das Ausmalen der eingemeißelten Buchstaben. Mit aus Siegen mitgebrachter Farbe und Pinsel strichelten die Steinmetze sorgfältig in die Vertiefungen. „Alles im Stehen, oft leicht gebückt. Man muss eine ganz ruhige Hand haben, denn wegwischen kann man nichts, wenn etwas daneben geht.“ Der raue Kalkstein verzeiht keine Fehler. Wenige Tage vor dem 1. November war es vollbracht: Das Grab der beiden Domkapellmeister erstrahlt ganz in Weiß, und Uwe Werthebach hat seinem „Chef“ ein würdiges Denkmal gesetzt. Das werden auch nachfolgende Generationen von Domspatzen besuchen können, denn dieses Grab ist ein „Ehrengrab“, das niemals eingeebnet wird. Da hat Georg Ratzinger, der seinen Jungs gern Spitznamen gab, bei Uwe Werthebach wohl richtig gelegen. Ihn nannte er „Ehrenmann“.
Quelle: Siegener Zeitung - hier kompletten Artikel im Original ansehen